26. März 2025
Matthias Wagener
Der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, sagte einmal: „Das Web ist mehr eine soziale Schöpfung als eine technische. Ich habe es entworfen, um soziale Effekte zu bewirken – um Menschen zu helfen, zusammenzuarbeiten – und nicht als technisches Spielzeug.“
Aber anders, als hier zitiert, ging es schon in den frühen Tagen des Internets bei der Entwicklung des gesamten digitalen Spektrums vor allem um die Buzzwords Innovation und Disruption – inklusive Zugänglichkeit schien nebensächlich.
Anders gesagt: Die Entwicklungsgeschwindigkeit der digitalen Welt war getrieben von so vielen parallelen Geschäftsinteressen, dass die Bedürfnisse von Minderheiten keine Beachtung fanden. Jedenfalls nicht bei der Masse der Neuentwicklungen, nicht bei Software oder bei Hardware, ganz zu schweigen von Dienstleistungen und Social Media Plattformen.
Mit der Gründung des World Wide Web Consortium (W3C) 1994 begann die Entwicklung einer ersten Version der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 1.0), die 1999 einen Empfehlungsstatus erhielten. Diese erste Version der Richtlinien konzentrierte sich deutlich auf technisch realisierbare Aspekte wie Alternativtexte für Bilder und Strukturierung von Inhalten mit HTML. Sie enthielt 14 allgemeine Richtlinien, unterteilt in 3 Prioritätsstufen.
Heute, 2025, ein Vierteljahrhundert später, beleuchten wir den weiten Weg von diesen ersten Inklusions-Ansätzen bis zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG).
Erste Version der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 1.0 vom W3C. Die Richtlinien legten den Grundstein für die barrierefreie Gestaltung von Webinhalten.
Die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) trat in Deutschland in Kraft. Basierend auf WCAG 1-0, regelt die Verordnung die barrierefreie Gestaltung von Websites für öffentliche Stellen des Bundes.
WCAG 2.0 aktualisierte die Richtlinien zur Barrierefreiheit von Webinhalten. Diese Version führte vier Grundprinzipien ein: Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit.
Novellierung zur BITV 2.0 erweiterte und konkretisierte Anforderungen an die barrierefreie Informationstechnik.
Verabschiedete EU-Richtlinie 2016/2102 über den barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen.
Veröffentlichung der WCAG 2.1 mit zusätzlichen Anforderungen für mobile Barrierefreiheit und für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen.
Anpassung BITV 2.0, um die EU-Richtlinie 2016/2102 in deutsches Recht umzusetzen, erweiterte Anforderungen an die Barrierefreiheit von mobilen Anwendungen.
Basierend auf der Europäische Norm für digitale Barrierefreiheit (EN 301 549), dem European Accessibility Act (EAA), und WCAG 2.1 wird das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verabschiedet.
Inkrafttreten des BFSG, um Anforderungen des EAA in deutsches Recht umzusetzen und auch privatwirtschaftliche Unternehmen einzubeziehen. Auch wenn das Gesetz bereits in Kraft ist, besteht eine Übergangsfrist bis Juli 2025. Von diesem Zeitpunkt an sind privatwirtschaftliche Unternehmen rechtlich dazu verpflichtet, ihre digitalen Angebote barrierefrei zu gestalten.
Tatsächlich scheint hier einiges in Bewegung zu sein – und klar, wir fokussieren hier die deutschen Digital-Angebote für den deutschen „digitalen Raum“ („„Das Internet ist für uns alle Neuland.“, Kanzlerin Angela Merkel in Pressekonferenz mit US Präsident Barack Obama, Juni 2013).
Bei genauerem Hinsehen: Was sind die konkreten Unterschiede zwischen den bisherigen Verordnungen und dem neuen BFSG ab Juni 2025?
Wichtigster Punkt ist der Geltungsbereich – für wen die Regeln überhaupt gelten sollen: bisherige Richtlinien zielten auf öffentliche Einrichtungen, auf Behörden und Organe des Bundes selbst. Mit der Inkraftsetzung des BSFG im Juni 2025 verpflichtet das Gesetz nun auch privatwirtschaftliche Unternehmen, bestimmte Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten, um allen Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe am Wirtschaftsleben zu ermöglichen.
Die Diskrepanz zwischen der ursprünglichen Vision eines frei für alle und jede*n zugänglichen Internets und der heutigen Realität zeigt, dass noch viel getan werden muss, um einen wirklich inklusiven digitalen Raum zu schaffen.
Das BFSG richtet sich darum an Hersteller, Importeure, Händler und Dienstleistungserbringer, die bestimmte Produkte und Dienstleistungen für Verbraucher anbieten.
Es erstreckt sich dabei auf alle digitalen Vertriebskanäle: Webseiten, Apps und digitale Plattformen, die im Zusammenhang mit den genannten Produkten und Dienstleistungen stehen. Sie alle müssen so gestaltet sein, dass sie auch für Menschen mit Beeinträchtigungen auffindbar, zugänglich und nutzbar sind – barrierefrei.
Menschen mit Beeinträchtigungen stoßen sowohl in der physischen als auch in der digitalen Welt auf vielfältige Barrieren.
Das BFSG formuliert konkrete Anforderungen an die Barrierefreiheit von Web-Assets, die über einfache Anpassungen wie Schriftgrößen oder Farben hinausgehen:
In der praktische Umsetzung bedeutet das Realisieren aller notwendigen Aspekte eine enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachrichtungen: Ein interdisziplinäres Arbeiten mit Bedeutung für jedes digitale Projekt.
Bei Neuentwicklungen muss BFSG Konformität ab jetzt zum Projektstart gleich mitgedacht werden, um spätere, teure Anpassungen zu vermeiden.
Ergänzend gibt es verschiedene Tools, die bei der Optimierung bestehender Digital-Angebote unterstützen und während des Prozesses in Neuprojekten genutzt werden können, um Fehler oder Realisierungs-Lücken zu identifizieren:
Automatisierte Tests sind gut – Für reichweiten- und nutzer*innenstarke Angebote kann es auch einen Schritt weiter gehen: Wann immer möglich sollten Inhalte direkt im Entstehungsprozess von den jeweiligen Zielgruppen getestet werden, um die Maßnahmen zur Barrierefreiheit zu prüfen.
So können die genannten automatisierten- durch Nutzertests ergänzt werden, um technische und praktische Aspekte der Barrierefreiheit im realen Kontext zu überprüfen und Optimierungsmöglichkeiten zu identifizieren.
Durch öffentliche Aufrufe oder direkte Einladungen können Zielgruppen respektvoll kontaktiert werden. Dazu bedarf es natürlich entsprechender Empathie, Offenheit und Kompensationsmaßnahmen.
Test-Aufrufe sollten Orientierung gaben, wie Tests ablaufen, warum die Meinung der Testenden wichtig ist – und welche Vorteile eine Teilnahme mit sich bringt. Dass das Wohlergehen und die Privatsphäre der Teilnehmenden das A und O dieser Tests ist, steht außer Frage.
Darüberhinaus gibt es bereits heute Angebote zur Zertifizierung, die eine BFSG-Konformität digitaler Angebote und Produkte belegen. Auch wenn nicht offiziell vorgesehen im BFSG, bietet z.B. TÜV Süd eine solche Zertifizierung an.
Es ist sicherlich überfällig, digitale Räume und die digitale Business-Infrastruktur inklusiver zu gestalten.
Gleichzeitig kann die Umsetzung des BFSG für digitale Projekte und zukünftiges Online-Business vor allem für laufende Websites Anpassungen bedeuten, die über oberflächliche Kosmetik weit hinausgehen.
Sinnvolle Optimierungsansätze müssen umfassend und interdisziplinär geplant und umgesetzt werden. Auch wenn es herausfordernd erscheint: nur mit konsequenter Umsetzung erreichen wir das überfällige Ziel inklusiver digitaler Angebote.
Der Zeitstrahl der Entwicklung bis zum BFSG zeigt, wie lange es dauert, das Recht zu Inklusion und Zugänglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen.
Die Liste der Änderungsaspekte zeigt dabei die Vielfalt an Ausschlusskriterien, mit denen ganz verschiedenen beeinträchtigte Personengruppen der Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien erschwert oder diese gänzlich von digitalen Angeboten ausgeschlossen wurden.
Wenn wir unseren Horizont erweitern und unsere Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen ernst nehmen, erscheinen Entwicklung und Umsetzung dieser gesetzlichen Verpflichtung selbstverständlich – als verantwortungsvoller Beitrag eines eigentlich selbstverständlichem Zugangs und Teilhabe in der digitalen Welt.